Im November habe ich auf einem Konzert eine Handvoll Stücke gespielt, drei davon französischen Ursprungs. Mir ging es nicht so sehr darum, eine möglichst authentische Interpretation zu liefern. Hierfür eignete sich schon das Instrument nicht und letztendlich wissen wir auch schlicht zu wenig über die musikalische Praxis jener Tage.
Andererseits wollte ich den Besuchern den höchsten Musikgenuss bieten, den ich als Laie und Hobbyist in den wenigen Wochen Vorbereitungszeit hinzubekommen vermochte. Um die Stücke “zum Klingen” zu bringen, musste ich mich also zumindest an den bekannten Erkenntnissen der musikalischen Aufführungspraxis des jeweiligen Zeitalters beschäftigen.
Nehmen wir das erste Stück. 1737 erschien das «Premier Livre d’Orgue» von Michel Corette (1707-1795), aus dem ich «Concert de Flûtes» ausgewählt habe, da es sich mit den Registern des Instrumentes gut abbilden ließ. Das Stück ist im ¾-Takt gehalten und weist ein paar Achtelketten auf. Man kann das Stück natürlich so spielen wie notiert.
Alternativ kann man die zu jener Zeit in Frankreich gängigen «Notes inégales» zum Einsatz bringen. Leider ist der Artikel der deutschsprachigen Wikipedia zu den “ungleichen Noten” recht knapp gehalten. Ironischerweise gilt das für den französischsprachigen gleichermaßen :) . Deutlich mehr Informationen liefert die englischsprachige Seite (alternativ kann ich das Druckwerk »Zur Interpretation der französischen Orgelmusik« empfehlen):
Within this body of writing there is considerable inconsistency, but by the late 17th century a consensus practice began to emerge.
The typical rule, from the late 17th century until the French Revolution, is that notes inégales applies to all notes moving stepwise which have a duration of one quarter the denominator of the meter, for instance, eighth notes in a meter of 2/2, or sixteenth notes in a meter of 4/4; and one half the denominator of the meter in cases of triple or compound meter, for instance, eighth notes in 3/4.
Ich habe mich dafür entschieden, alle Achtel des gesamten Stückes deutlich ternär (“louré”) zu spielen, also die notierten Achtel triolisch im Verhältnis 2:1 zu unterteilen (an dieser Stelle konnte ich meine Vorliebe für den Jazz vielleicht nicht ganz unterdrücken). Andere Interpreten hätten vielleicht die erste Achtel nur kaum merklich betont (eine entsprechende Aufnahme habe ich vorliegen) oder sich für punktierte Achtel mit nachfolgender Sechzehntelnote (“piqué”) entschieden, die mir persönlich aber zu “abgehackt” für das Stück zu sein scheint.
Das obige Zitat liefert einen brauchbaren Rahmen, an dem man sich gut orientieren kann. Bei der konkreten Interpretation eines französischen Barockstückes jedoch werden immer wieder genügend Fragen offenbleiben. Im oben erwähnten Buch weist Ewald Kooiman denn auch darauf hin, dass der Grad der Inegalität selbst innerhalb eines Stückes variiiert werden kann und letztlich der Geschmack (“Le Goût”) des Interpreten entscheiden muss, wie der Charakter eines Stückes am besten herausgearbeitet werden kann. Unklar scheint auch zu sein, wie verfahren werden soll, wenn ungleiche Noten selbst weiter unterteilt sind. Man kann die Inegalität zusätzlich auf die kürzeren Notenwerte anwenden (“kumulative Inegalität”) oder die Inegalität der längeren Notenwerte aufheben.
In wie weit die Ungleichheit auch auf barocke Werke des restlichen Europa anwendbar ist, scheint noch schwieriger zu beantworten zu sein. Man muss wohl mit allem rechnen, von gar keinen Hinweisen bis zu Hinweisen in einzelnen Takten bis zur ausgeschriebenen Notation.
Vielleicht sollte ich das nächste Mal einfach verschiedene Interpretationen hintereinander spielen und die Zuhörer darüber abstimmen lassen, welche am besten klang. Dann bekäme ich zumindest einen Hinweis auf den heutigen Zeitgeschmack :) .